69.125 einzelne Schicksale sollten uns Mahnung sein

Erneut stand am 25.02.2021 eine Regierungserklärung des Senats auf der Tagesordnung der Bremischen Bürgerschaft. Hier dazu meine Rede als Fraktionsvorsitzender der Grünen Bürgerschaftsfraktion:

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt beim Zählen gar nicht mehr mitgekommen, ob es nun die siebte oder achte Regierungserklärung des Senats heute ist, anlässlich der Coronapandemie und doch sind wir von einer Routine sehr weit entfernt. Zu schwierig, zu unsicher ist die derzeitige Lage.

Augenscheinlich sind die Zahlen besser als noch vor Weihnachten, das ist richtig. Aber ist das ein Signal für eine Entwarnung? Wer verantwortungsvoll die Zahlen und Details liest, wird zum Ergebnis kommen, wir haben viel gemeinsam geschafft. Das hat vielen Menschen sehr viel abverlangt. Die Sorge um die eigene Existenzgrundlage – ob Arbeitnehmer*innen oder Unternehmer*innen –, die Sorge um die eigene Familie und die Sorge um die Entwicklung unserer Gesellschaft sind nicht wegzudiskutieren. Politik tut gut daran, diese bei den zukünftigen Entscheidungen im Blick zu behalten.

Aber, wer verantwortungsvoll die Zahlen und Details liest, der wird auch sagen müssen, mit dem Auftreten der Mutationen B.1.1.7, B.1.351 und P.1 hat sich die Sachlage noch einmal entscheidend verändert.

Diese Varianten, die besonders infektiös sind, haben dabei die beste Chance ihren Anteil am Pandemiegeschehen deutlich zu vergrößern und es passiert ja jetzt auch schon hier bei uns in Bremen und in ganz Deutschland. Experten sprechen schon von einer zweiten Pandemie- oder warnen vor einer dritten Welle. Deswegen ist es und bleibt es wichtig, die Grundregeln weiter zu beachten, weiter vorsichtig und aufmerksam zu sein, meine Damen und Herren!

Mit Stand von heute weist das RKI 69 125 COVID-19-Todesfälle in Deutschland aus. 69 125 einzelne Schicksale sollten uns Mahnung sein, wenn wir allzu offen über Öffnungsszenarien und Lockerungen debattieren. Das ist auch ein wenig das Dilemma der anstehenden MPK – es ist ja ganz schön, dass wir einmal im Vorfeld der MPK diskutieren können –, weil natürlich auf der einen Seite vermitteln Teile der Länder und Parteien das Gefühl, es ginge nur noch darum, wann eigentlich was geöffnet wird.

Auf der anderen Seite stehen die harten Fakten, insbesondere rund um B.1.1.7 hier bei uns. Dabei – der Hinweis ist schon mehrfach gefallen, aber immer wieder richtig – haben wir derzeit weder die 50 erreicht, sowohl im Bund, noch hier im Land, noch sind wir überhaupt in der Nähe der 35. Meine Damen und Herren, ganz nüchtern betrachtet und ohne politischen Angriff gemeint, eine hohe Ansteckungsgefahr trifft auf eine langsame Impfkampagne. Wir waren uns alle bewusst, dass man nicht innerhalb von vier Wochen ein ganzes Land wird durchimpfen können, aber natürlich ist durch das Auftreten der Mutationen eine andere Dynamik und eine andere Blickrichtung darauf noch einmal gekommen. Ganz ausdrücklich will ich an dieser Stelle das Agieren des Senats hervorheben, die Rückmeldungen über die Abwicklung der Impfungen hier im Impfzentrum sind durch die Bank positiv.

Dass das auch schiefgehen kann, da muss man ja nicht so weit weggehen, um das festzustellen. Dieses erste positive Fazit ist auch das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit des Senats, der verantwortlichen Behörden, der Hilfsorganisationen, der Messegesellschaft und der Bremer Wirtschaft. Auch jetzt treibt der Senat mit seinen Partnern die Ausdehnung der Impfkapazitäten weiter voran und agiert proaktiv für den Fall, dass die Ankündigung größerer Impfstoffmengen in naher Zukunft Realität werden können. Nehmen Sie deshalb, liebe Frau Senatorin Bernhard, – vielleicht kann es ihr jemand ausrichten – ausdrücklich unseren Dank an Sie persönlich, aber auch ihr ganzes Team und die zahlreich beteiligten Firmen und Organisationen entgegen. Wir finden, sie alle haben beim Impfzentrum bisher eine verdammt gute Arbeit geleistet.

Ich will jetzt gar nicht auf den Bundesgesundheitsminister einhauen und ich will mich auch nicht dazu auslassen, wer wann welche Fragen stellt und wie Beziehungsgeflechte in einer Koalition sind. Aber Fakt ist doch, das, was wir brauchen, ist Verlässlichkeit, meine Damen und Herren. Da muss man leider attestieren, dass der Bundesgesundheitsminister gute und entschlossene Ankündigungen hat, aber im wahrsten Sinne des Wortes leider viel zu oft Lieferschwierigkeiten. Und, meine Damen und Herren, wo wir beim Thema Verlässlichkeit sind, wir betrachten mit Sorge die aktuelle öffentliche Diskussion um den Impfstoff AstraZeneca. Ich glaube, da haben wir alle, insbesondere die Bundesebene aber auch die Länder, eine gemeinsame Aufgabe, auf die Wirksamkeit dieses Impfstoffes noch einmal hinzuweisen, denn dieser Wirkstoff hilft auch schwere Infektionsverläufe oder das Versterben zu verhindern. Meine Damen und Herren, ich habe relativ wenig Verständnis dafür, während viele Menschen auf eine Impfung warten, dass andere diese ablehnen.

Wo wir bei Verlässlichkeit sind, das gilt für mich auch für die Selbsttests. Die sind seit gestern freigegeben, das ist gut. Aber wie schnell und in welcher Anzahl sie kommen werden und vor allem, was sie kosten, das wissen wir bis heute leider nicht. Angekündigt waren sie übrigens im September letzten Jahres durch den Bundesgesundheitsminister. Ich glaube, dass diese Frage, was kostet es eigentlich, eine Frage ist – –. Ganz ehrlich, ich glaube, Krisenmanagement darf man nicht einfach dem Markt frei überlassen, ich glaube, dass wir da schon regulativ eingreifen müssen, weil diese Selbsttests sind am Ende einer der Schlüssel für die zukünftige Bewältigung der Pandemie. Da bin ich auch ganz bei Jens Spahn: Diese Tests sind enorm wichtig, insbesondere jetzt, wo sich die Impfungen ja noch eine Zeit lang hinziehen können. Sie bieten die Chance, noch einmal deutlich die Testkapazitäten zu erhöhen. Sie bieten aber auch die Chance, die Pandemiebekämpfung weiter voranzutreiben und vor allem Öffnungsszenarien tatsächlich für den Bereich der Kultur, für die Veranstaltungsbranche, für den Gastrobereich zu sein, wenn man die Chance hat, auch selbst sich testen zu können. Deswegen ist es wichtig, dass diese Tests alltagstauglich und kostengünstig bis kostenlos sind, meine Damen und Herren! Und das ist auch ein Anspruch, den wir an die Politik in der Bundesregierung haben müssen in diesem Fall.

Meine Damen und Herren, testen, impfen und die Regeln einhalten wird auch in den kommenden Wochen und Monaten der notwendige Dreiklang bleiben.

Nun wird ja ganz viel über Stufenpläne diskutiert. Zuletzt hatte auch das RKI einen vorgelegt, da ist in der Debatte eben schon darauf eingegangen worden. In der Tat ist der Aspekt, den das RKI aufgegriffen hat, von dieser reinen Betrachtungsweise auf den Inzidenzwert weitere Faktoren hinzuzuführen, aus meiner Sicht auch richtig, weil natürlich der Inzidenzwert in der damaligen Zeit, als er eingeführt wurde, eine klare Frage der Nachverfolgung hatte, weil sichergestellt werden musste, dass Krankenhauskapazitäten ausreichen.

Mittlerweile sind wir ein bisschen weiter, was die Erkenntnisse angeht, deswegen auch gar keine Kritik daran, dass man sich auf diesen Inzidenzwert so verlassen hat. Aber jetzt gibt es weitere Faktoren und es macht, glaube ich, Sinn, das gemeinsam zu beraten, gemeinsam auch mit der Wissenschaft zu beraten, damit wir eine vernünftige und gute Mischung erreichen. Aber ich sage Ihnen auch ganz deutlich, das ist jetzt nicht der Weg durch die Hintertür, um weitere Öffnungen schnell zu ermöglichen, sondern ich glaube, dass es tatsächlich dieser wissenschaftlichen Betrachtung bedarf und da werden wir uns gern an dieser Diskussion beteiligen.

Meine Damen und Herren, Sie wissen ja, dass wir eher Fans von Stufenplänen sind, weil sie Transparenz und Verlässlichkeit schaffen. Natürlich machen sie auch nur Sinn, wenn sie bundesweit einheitlich sind, was ja nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass sie gleichzeitig überall gelten, sondern sie richten sich eben nach der jeweiligen Situation. Natürlich braucht es Mechanismen, die die Frage der unterschiedlichen Inzidenzen in angrenzenden Kreisen und Gemeinden ausgleichen. Ich glaube, dass das in der Tat einer der Knackpunkte bei den Stufenplänen ist. Was Stufenpläne aber nicht sind – und dem will ich an der Stelle auch einmal deutlich widersprechen –, sie sind keine reinen Öffnungspläne, denn sie beschreiben zwingendermaßen auch die andere Richtung, nämlich die weiterer möglicher Einschränkungen und insofern habe ich mich bei dem einen oder anderen Stufenplan schon auch gefragt, ob den Autorinnen und Autoren bewusst ist, dass es auch eine Regulierung in die andere Richtung geben muss.

Meine Damen und Herren, der Bürgermeister hat eine leichte Anpassung für die anstehende MPK und die neue Bremer Coronaverordnung in Aussicht gestellt. Der Präsident des Senats bemühte die „Mutter“ und die „Porzellankiste“. Auch wir sind sehr dafür, hier mit Augenmaß und Zurückhaltung vorzugehen, um nicht den bisherigen Erfolg zu gefährden und der Mutation die Türen weit zu öffnen. Meine Damen und Herren, ein Jo-Jo-Effekt ist das letzte, was wir in der derzeitigen Situation in unserem Land für die Menschen und für die Wirtschaft gebrauchen können.

Bei den Kontaktbeschränkungen lassen die Zahlen derzeit Anpassungen zu. Ich sage ganz bewusst nicht Lockerung, um nicht Hoffnung und Erwartung zu enttäuschen, also die Gartenparty wird es auch in naher Zukunft sicherlich nicht geben können. Aus meiner Sicht hat sich aber beispielsweise die Betrachtung von Haushalten oder auch die der Familie, dann allerdings auch bitte gleich die der Wahlfamilie mit dazu gedacht, bewährt. Und wenn wir immer betonen, dass Kinder und Jugendliche oberste Priorität haben, dann sollten wir ihnen zeitnah auch ermöglichen, sich an der frischen Luft mit ihren Freundinnen und Freunden wieder gemeinsam zu bewegen und Sport zu treiben. Übrigens auch für Erwachsene sollten wir hier eine Möglichkeit geben, ihre Gesundheit weiter zu stärken und die Regierungskoalition hat ja schon einen entsprechenden Antrag eingereicht, meine Damen und Herren!

Für uns Grüne wird die Entscheidung zwischen Indoor und Outdoor auch bei zukünftigen Schritten ein wichtiges Kriterium sein. Das kann in Verbindung mit Selbst- oder Schnelltests – wie schon erwähnt – sowohl für die Veranstaltungsbranche, die Kulturszene und auch die Gastronomie eine Perspektive eröffnen, denn trotz der Mutationen bleibt es immer noch dabei, dass es draußen eben sicherer ist als drinnen.

In der Diskussion um die Schulen ist der Senat auf die Sorgen der Beschäftigten auch eingegangen. Wir haben schon erwähnt, dass die Impfungen für die Beschäftigten an Kita und Schulen in der Priorisierung in die Gruppe zwei erfolgt ist. Das gilt dann – wenn ich das richtig verstanden habe – auch für die Beschäftigen der Jugendhilfe. Die Testungen für das Personal sind aus meiner Sicht ebenso unerlässlich und wichtig, dieses Angebot zu unterbreiten, um sicherzustellen, dass jede und jeder auch die Möglichkeit hat, sich zu testen und sein eigenes Arbeitsumfeld sicher zu betreten. Die Radartestungen laufen fort.

Ich möchte noch zwei Anmerkungen machen: Die eine betrifft die Corona-App. Als sie am Anfang kam, war ich total begeistert, dass es geschafft wurde, ein Angebot zu unterbreiten, das sehr hilfreich sein kann. Das zeigen ja auch andere Länder, was sehr hilfreich sein kann, die Nachverfolgung zu klären aber auch, die Pandemie damit zu bekämpfen. Ich habe das Gefühl, sie ist ein bisschen stehengeblieben in der Entwicklung und das hat eben nichts – und das ist es ja, was einen irgendwann nervt, aber egal – mit dem bösen Datenschutz zu tun. Die Frage, ob man die Clusterfunktion endlich in der App hinbekommt, die hat überhaupt nichts mit dem Datenschutz zu tun.

Da muss man einmal die Freigabe dafür erteilen und dann ist es auch gut. Aber wenn wir so eine Clusterfunktion hätten, das heißt, wenn ich mich in einem Raum mit mehreren bewege und die Freigabe erteile, dass bestimmte Daten auch mit übertragen oder gesammelt werden können, die über den Zeitraum von15 Minuten hinausgehen oder über die Distanz, dann macht es einfach Sinn und das wäre noch einmal ein weiterer wichtiger Schritt.

Ebenso gibt es immer noch keine Alternativen für die älteren Handys. Auch da, meine Damen und Herren, sind wir in der Entwicklung stehengeblieben. Und wenn wir schauen, was können wir besser machen, dann glaube ich, ist in dieser App noch viel mehr möglich, ohne dass man gleich den Datenschutz außer Acht lassen muss und ohne dass man gleich Menschen zwingen muss, sie zu machen, sie muss einfach viel attraktiver werden, weil wir werden sie auch als einen weiteren Baustein in der Pandemiebekämpfung weiter brauchen. Da würde ich mir deutlich mehr „Wumms“, wie es so schön heißt, in der Entwicklung wünschen.

Ich glaube, den „Wumms“ haben schon viele einmal bemüht.

Dann will ich einen letzten Satz sagen: Mich hat betroffen gemacht, was in den letzten Wochen und eigentlich auch schon die ganze Zeit mit denjenigen passiert in der Öffentlichkeit, die Maßnahmen erklären, wissenschaftliche Erkenntnisse vertreten, Einschätzungen abgeben, zuletzt hat es ja den Kollegen Lauterbach getroffen.

Meine Damen und Herren, wir sind doch zu Recht stolz darauf, in einem Land zu leben, wo es die Wissenschaftsfreiheit gibt, wo geforscht wird, wo man wissenschaftsbasiert versucht zumindest die Entscheidungen zu treffen und die Wissenschaft als wichtigen Partner für die politischen Entscheidungen auch zu haben und sich beraten zu lassen. Natürlich müssen am Ende die gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter die Entscheidung treffen, das ist doch unbenommen.

Aber diejenigen, die uns beraten, diejenigen, die auch versuchen, die Erkenntnisse zu übersetzen aus diesem doch manchmal etwas komplexen und schwierigen Fachdeutsch, dass diejenigen in der Öffentlichkeit soweit angegangen werden, dass sie Morddrohungen erhalten, dass sie sich um ihre Familie sorgen müssen, das ist ein inakzeptabler Zustand. Wir müssen verhindern, dass diejenigen, die das tun, die sich in der Wissenschaft kümmern, die mithelfen, diese Pandemie zu bekämpfen, irgendwann schweigen aus Angst davor, mit dem Tode bedroht zu werden. Das ist unser aller Aufgabe und deswegen müssen wir zusehen, dass wir diese Solidarität immer und immer wieder auch deutlich machen. Deswegen sage ich es hier an dieser Stelle. Ich bin froh über jede Wissenschaftlerin und jeden Wissenschaftler, die sich öffentlich äußern und uns helfen mit Ratschlägen, mit Kontroversen, diese Pandemie zu bekämpfen und ich hoffe, dass sie das auch in naher Zukunft weiter tun werden. – Haben Sie herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!

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